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Kann er auch FRUST ?

Quelle dieses Artikels: https://www.so-denkt-ihr-hund-mit.ch/gedanken/ 

"Aber warum??!" - "Weil ich es will."

Oder über den Umgang mit Selbstverständlichkeiten

 

Hunde können und sollen lernen, sich mit anderen Hunden in einem Raum aufzuhalten. Und zwar in einem normalen Raum (nicht in einer Turnhalle und in jeder Ecke sitzt allerhöchstens ein Hund, lieber noch mit einer leeren Ecke dazwischen… ). In realistischen Abständen. Und zwar unabhängig davon, ob er diese Hunde kennt, ob sie gross, schwarz, dick, dünn, kastriert, pink gestreift oder grün gepunktet sind. Unabhängig davon, ob mein Hund 19 Wochen, 7 Jahre alt, aus dem Tierschutz, von der Züchterin oder weiss der Geier was ist. Wenn der Hund bei mir an der kurzen Leine ist, liegt die Verantwortung bei mir und er soll bereits früh lernen, dass es dann wunderbar langweilig wird und er entspannen kann. Die beste Möglichkeit also, sich hinzulegen und zu pennen. Es gibt auch keine Leckerli im 3-5-7-9-2-5-11(Achtung, viiiel zu lang!)-2-3-2-4-Sekunden Abstand. Denn es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ein Hund einfach neben uns liegen kann. 

Und wenn Hund will, darf er auch gerne versuchen zu diskutieren. Auch gut. Denn ich sage genau 1x etwas (nämlich «platz» oder «Decke» oder was auch immer) und danach wars das von meiner Seite her. Ich zeige auch nicht mehr mit der Hand Richtung Boden, kein «nein», nichts. Der Rest ist körperliche Arbeit. Das hat nichts mit Gewalt zu tun. Sondern damit, dass Hunde lernen sollen, dass wir auch körperlich mit ihnen arbeiten. Sie körperlich führen, sie körperlich manipulieren. Ohne wütend zu sein. Ruhig und klar. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir sie auch den ganzen Tag verbal zutexten.

Denn wenn ich irgendwo sitze und meinen Hund dabei habe, dann steht er gerade nicht im Mittelpunkt. Sondern dann möchte ich gerne essen und oder mich mit anderen Leuten unterhalten oder dem Löwenzahn beim Wachsen zuschauen oder der Goldammer beim Nestbau. 

Und ja, so einfach wie das hier klingt, ist es häufig nicht. Auch das darf sein. Denn dann haben wir die Möglichkeit, diese Sache auszusitzen und der Hund bekommt die Möglichkeit, ganz viel über uns und sich zu lernen. Und wir können ihm ganz nebenbei aufzeigen, dass wir einen Plan haben und diesen durchziehen. Und das steigert unsere Kompetenz in den Augen des Hundes enorm (auch wenn sie es nicht immer zugeben würden) und ist wieder ein Steinchen mehr im Mosaik des Vertrauensaufbaus. 

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Viele Hunde, die diese Übung oder diese Art der Arbeit nicht kennen, probieren so ziemlich alles aus, was es an Möglichkeiten gibt, um diese Übung nach ihrem Gutdünken zu gestalten:

«Dann fresse ich eben die Leine.»

Leine wird aus dem Fang genommen.

«Dann fresse ich die Decke»

Decke wird aus dem Fang genommen.

«Ich möchte die Decke aber trotzdem fressen!»

Decke wird aus dem Fang genommen.

«Mir ist laaaaangweiiiiilig!!!!!!» Auffordernder Blick, laaaanges Strecken und gleichzeitig von der Decke rutsch…

Hund wird zurück auf die Decke gelegt. Oder es wird versucht. Er beisst in die Hände, windet sich wie ein Aal, schnischnaschnappi. Auch das wird unterbunden, der Hund wird wieder auf die Decke gelegt.

Nun wird es dem Nachbarshund zu bunt und er schnellt knurrend Richtung in die Richtung des Schnischnaschnappis. Es wird kurz unruhig, beide werden wieder zurück auf ihre Decken gelegt. Ruhig atmen. Den Blick wieder vom Hund nehmen, sich weiter unterhalten.

Und nein, diese Übung ist auch nicht nach drei Minuten beendet. Denn auch junge Hunde können lernen, dass einfach mal wirklich lange lange lange nichts passiert. Eine Stunde Langeweile kann wirklich unglaublich viel bewirken.

 

Übrigens: Die helle Wuschelhündin rechts im Bild kam etwa drei Wochen, bevor dieser Text entstand, mit einer extrem ausgeprägten Leinenaggression zu uns. Auf diesem Bild ist sie das zweite Mal bei uns im Training, es hat noch zwei weitere Hunde ihr direkt gegenüber und sie hat unglaublich schnell verstanden, dass es nicht (mehr) ihr Job ist, gegen alles und jeden zu pöbeln, sondern dass es viel angenehmer ist, dies einfach ihren Menschen zu übergeben.

Frust macht freundlich

Stolze Welpenbesitzer*Innen: «Ist er nicht süss? Und er kann schon Sitz und Platz und Pfötchen geben!»

Ich: «Kann er auch schon Frust?»

 

Szenenwechsel

 

«Kindern und Jugendlichen mit geringer Frustrationstoleranz fällt es häufig sehr schwer, den sozialen Erfordernissen in Schule, Lehre und Alltag gerecht zu werden. Sie haben Mühe, sich bestehenden Regeln unterzuordnen, auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten anderer Rücksicht zu nehmen und eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Sie geraten unter Druck und reagieren schneller mit Gewalt.» (Aus: Jugend und Gewalt, Informationen und Tipps für Eltern und Erziehungsberechtigte. KKJPD 2010)

«Sogar überbehütete Kinder können gewalttätig werden – oft gegen die eigene Mutter. Sie haben nicht gelernt, sich selber zu beschäftigen, können sich als Jugendliche nicht einschätzen und haben eine geringe Frustrationstoleranz. (…) «Wie ein dreijähriges Kind in der Trotzphase, aber mit der Kraft und Intelligenz eines Teenagers»; so hat es Johannes Kapp von der Krisenintervention Bussola ausgedrückt.» (Quelle: https://www.aargauerzeitung.ch/leben/nach-carlos-prozess-warum-werden-manche-kinder-zu-gewalttatern-und-andere-nicht-ld.1168025)

 

Es ist wohl niemandem entgangen, dass in den letzten Jahrzehnten Fälle von schweren Gewaltdelikten, die durch Jugendliche verübt werden, zugenommen haben. Ich rede da nicht von irgendwelchen Schlägereien. Sondern von jugendlichen Tätern, welche ihre Opfer abstechen, verstümmeln, derart zusammenschlagen, dass sie schwerste Schäden davontragen oder sogar sterben.

Und es spielt keine grosse Rolle, welche Studien und Artikel man liest, um den Ursachen auf den Grund zu gehen. Ein auslösender Faktor wird überall genannt: Geringe Frustrationstoleranz. Also die Fähigkeit des Gehirns, mit Frust umgehen zu können. Mit dem Gefühl von «ich will das haben und ich bekomm es nicht!» umgehen zu können.

Der Klassiker dazu: Brüllendes, um sich schlagendes, dreijähriges Kind im Supermarkt. Die wunderbare Trotzphase. Was lernt denn da ein Kind optimalerweise? Wozu gibt es diese Phase überhaupt? Beziehungsweise, was passiert denn da im Gehirn? Das Kind lernt, dass es nicht alles jetzt sofort haben kann. Und dass das Leben trotzdem weitergeht. Und dass man trotzdem noch geliebt wird, auch wenn man sich absolut daneben benommen hat. Und dass man nicht alles bekommt, auch dann nicht, wenn man mit dem Kopf durch die Wand geht. Und dass diese Wut wieder vorbei geht. Und dass das Schokoladendingsda in einer halben Stunde doch nicht mehr soooo wichtig ist.

Und im Gehirn werden fleissig fleissig neue Strukturen gebaut, damit in ein paar Wochen, Monaten, Jahren nicht mehr derart viel Wut da ist, wenn etwas nicht ganz so läuft, wie man möchte. Denn das ist unangenehm und brutal anstrengend. Und macht irgendwann sozial auch einsam.

Es wird sozusagen an einer hirninternen Dämmung gearbeitet, damit nicht mehr alles sofort hochkocht und in Alarmbereitschaft ist, wenn einem mit 16 die Fussballtrainerin erklärt, dass man beim nächsten Spiel auf der Ersatzbank sitzen wird. Oder wenn dieser Typ da vor dir in den Club gelassen wird, aber bei dir heisst es: Nein, du nicht.

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Oder wenn du unbedingt zu dieser coolen Hündin dorthin möchtest, aber dein blöder Mensch hält dich an der Leine zurück. Oha. Entschuldigung. Nun sind wir ganz plötzlich wieder beim Hund gelandet. Beim pubertierenden Hund. Irgendwo zwischen 16 Wochen und ca. dreijährig. Denn es ist nicht nur bei den Menschen so, sondern leider auch bei den Hunden: Viel häufiger als noch vor 30 Jahren begegnen mir heute Hunde, die bereits in sehr jungem Alter mit unangemessener Aggression und/oder Wut reagieren, wenn sie nicht das bekommen, was sie wollen. Ihre Frustrationstoleranz ist erschreckend niedrig, dafür können sie bereits mit 14 Wochen Sitz und Platz und 32 andere Kunststücke. Aber mit Frust umzugehen, lernen sie immer weniger und es ist genau wie beim Menschen: Sie explodieren unglaublich schnell und völlig unangemessen. Hier ein paar Beispiele aus dem Alltag:
 

  • Sie wenden sich an der Leine, wenn sie nicht dorthin dürfen, wo sie hinwollen, gegen ihre Menschen und beissen (nein, es ist nicht ein «Schnappen». Es ist auch nicht «Zufall», dass er die Hand oder das Bein des Menschen erwischt hat. Und es ist auch nicht so, dass «er das gar nicht wollte»).
     

  • Sie lassen sich nicht abtrocknen, nicht die Pfoten kontrollieren (und zwar dann und dort, wo der Mensch das möchte), nicht die Ohren kontrollieren, ohne steif zu werden, zu knurren oder ihre Menschen anzugehen.
     

  • Bürsten ist nicht oder nur in Etappen (nach zwei Minuten wird Pause gemacht) möglich, da der Hund das nicht länger möchte. Und dann knurrt und dann…
     

  • Sie können nicht an einem zugewiesenen Ort (z.B. einer Decke) bleiben, ohne dass sie dauernd dafür gefüttert werden. Und zwar egal, ob jetzt da andere Hunde, spielende Kinder oder was auch immer an Leben drumherum stattfindet. Wird das Liegenbleiben über eine längere Zeit ganz selbstverständlich ohne Futter eingefordert, reagiert der Hund mit Winseln, Bellen, Wut, Aggression, er beginnt die Decke oder Leine zu zerstören oder beisst seinen oder sonst einen Menschen.
     

  • Beim körperlichen Raum nehmen durch einen erwachsenen, stabilen Hund, greifen sie diesen mit Beschädigungsabsicht umgehend an.
     

  • Beim Tierarzt sind einfachste Untersuchungen nicht möglich, ohne dass Hund sich wehrt und um sich beisst. 
     

Und jetzt? Was tun? Eigentlich wäre es ganz einfach. Eigentlich. Neben «Sitz» und «Platz» und «Pfötchen» und «ganz toll Mantrailen mit 16 Wochen» gäbe es da etwas, das viel wichtiger wäre: Die Lust am Frust beim ach so stolzen Menschen. Das müsste zuoberst, an allererster Stelle stehen. Auch in den Hundeschulen. Denn ein Hund (und auch ein Mensch), der lernen durfte, mit Frust umzugehen, wird später ein deutlich zufriedeneres und entspannteres Leben haben können.

Und Dinge wie «an lockerer Leine gehen», «Sitzen bleiben, wenn ich eine Katze sehe», «im Restaurant unter dem Tisch pennen» sind tausendmal einfacher, wenn da zwischen den Ohren ein Hirn sitzt, dem die Möglichkeit geboten wurde zu lernen, mit Frust umzugehen.

Und wie soll man das denn tun? Indem man seinem Welpen und Junghund immer und immer wieder bewusst in Situationen führt, die ihn frustrieren und die er nach einer Weile bewältigen kann. Er wird ruhig(er) und entspannt(er). Und zwar OHNE dafür (und auch nicht etwas später) gefüttert zu werden. Und lernt so wieder ein bisschen besser mit Frust umzugehen. Hier ein paar konkrete Denkanstösse dazu:

 

  • Ich sitze, kniee auf dem Boden oder einem Hocker und halte meinen Hund an meiner Seite (ich nenne das «Halteübung»), so dass der Hund mit mir Körperkontakt hat und behalte meine Hände am Hund. Eine vorne an der Brust, die andere etwa oberhalb des Hundeellbogens, so dass ich ihn wirklich halten und einrahmen kann. Ich sage nichts, ich «moduliere» den Hund einfach so, wie ich es gerne hätte: Neben und nicht vor mir, alle vier Pfoten auf dem Boden (nicht auf oder vor meinem Fuss), stehend. Er will sich setzen? Meine Hand wandert unter den Bauch und stellt den Hund wieder auf. Ruhig, klar und entspannt. Genauso, wenn er beginnt zu zappeln, rückwärts oder vorwärts will.
     

  • Sobald diese «Grundübung» einigermassen sitzt, mache ich das auch, wenn Ablenkung rundherum ist: Andere Hunde, spielende Kinder, …
     

  • Ich bürste meinen Hund. Egal wann und wo. Und zwar auch an Körperstellen, die er nicht so mag. Ruhig, aber klar und zielgerichtet.
     

  • Im Junghundekurs hat ein Team grossen Spass und tollt umher, während mein Hund da nicht hindarf. Er liegt auf der Decke. Ohne mit ihm zu reden oder ihn zu füttern. Wenn er aufsteht, lege ich ihn wieder hin. Ohne wütend zu sein. Ohne ihn gross anzuschauen. Einfach durch eine klare Körperarbeit am Hund.
     

  • Du hast einen souveränen Zweithund oder kennst jemanden, der einen hat? Wunderbar: Beide bekommen einen Kauartikel, der vom Junghund/Welpen ist so gewählt, dass er früher fertig ist damit und er damit umgehen lernen darf, dass der andere Hund etwas hat, das er auch möchte (aus Sicherheitsgründen, bzw. wenn sich die Hunde nicht wirklich gut kennen, die Hunde durch ein Gitter trennen).
     

  • Ich leine meinen Hund im Wohnzimmer auf seinem Platz an oder er ist räumlich durch ein Gitter abgetrennt und es kommt Besuch (der den Hund natürlich ignorieren soll).
     

  • Heute darf er nicht aufs Sofa. Alle andern schon. Weshalb? Einfach so. Um den Umgang mit Frust zu üben. Immer, wenn er hoch will, schiebe ich ihn wieder kommentarlos runter.

 

Wichtig ist an dieser Stelle den Unterschied zwischen Übungen zur Impulskontrolle/zum Belohnungsaufschub und zur Frustrationstoleranz zu verstehen: Wenn es um die Impulskontrolle geht (auch wichtig!), bekommt der Hund das Gewünschte nicht sofort, sondern etwas später. Er soll lernen, sich zu beherrschen, zurückzunehmen und sich zu kontrollieren. Üben wir an der Frustrationstoleranz, lösen wir ganz bewusst Frust aus und der Hund bekommt NICHT, was er möchte, beziehungsweise kann nicht dorthin, wo er hin möchte.
 

Es gibt 1001 Möglichkeit, um immer und immer wieder im Alltag an der Frustrationstoleranz zu üben. Und auch wenn es uns Menschen immer wieder schwer fällt, hilft es, wenn man sich bewusst wird, dass wir dem Hund damit etwas unglaublich Wichtiges für seine Lebensqualität mitgeben! Aber das kann nur gelingen, wenn wir dem Gehirn die Möglichkeit bieten, die nötigen Strukturen dafür auszubauen. Denn wie oben geschrieben: Wer Frust kann, wird es gemütlicher haben im Leben. Und mit viel kleinerer Wahrscheinlichkeit zum Gewalttäter. Egal, ob Mensch oder Hund. 

 

Übrigens: Auch ältere Hunde können noch lernen, mit Frustration besser umzugehen, jedoch nicht mehr so einfach, wie das bei Junghunden und Welpen möglich ist. Es dauert länger und ist für alle Beteiligten anstrengender (aber dennoch lohnenswert!).

 

Also: Packen wirs an!

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